Nuclear Gandhi – Wie durch Civilization ein historisches Meme geboren wurde!

Würde man eine Runde Familienduell spielen und die Frage gestellt bekommen, welcher Begriff einem zuerst zu “Mahatma Gandhi” einfällt, dürfte die Suche nach der Top-Antwort nicht schwer fallen: Möglicherweise wird hier “Frieden” genannt, eventuell auch “Gewaltverzicht” oder vielleicht auch einfach “Indien”. Der Kopf filtert relativ schnell aus bekannten Gandhi-Darstellungen das wichtigste heraus und egal ob Buch oder Film: Gandhis gewaltfreier Einsatz für Indiens Unabhängigkeit von Großbritannien wird immer im Vordergrund stehen. Deshalb ist es auch vollkommen egal, woher man die üblichen 100 Personen nimmt, die dort gefragt werden. Wobei es natürlich eine Ausnahme geben könnte. Werden aus den 100 “zufällig ausgesuchten Personen” nun 100 “Civilization-Spieler”, so wäre die Top-Antwort sicherlich eine, mit der man so nicht rechnen würde. Denn hier wird wahrscheinlich nicht “Frieden” genannt werden, sondern eine ganz andere Antwort: Atombomben!

Innerhalb der Civilization-Universums hat sich Gandhi als langjähriges Mitglied (seit Teil 1 dabei!) mittlerweile seinen eigenen Ruf als Liebhaber von Atomwaffen erarbeitet und dem ein oder anderen Spieler gezeigt, dass mit ihm in der Spätphase des Spiels nicht gut Kirschen essen ist. Auch außerhalb des eigentlichen Spiels wird in zahlreichen Memes darauf angespielt, sodass sein Ruf gar nicht mehr so sehr nur auf das Spiel bezogen ist, sondern auch Einzug in Gandhis Geschichtsbild gefunden hat (wenn auch nur im kleinen Rahmen, aber immerhin!). Wir wollen uns deshalb im heutigen Artikel einmal die Entstehungsgeschichte von Nuclear Gandhi anschauen: Wie wurde aus dem Kämpfer für den Frieden durch die Civilization-Serie ein rücksichtsloser Kriegstreiber? Und wie passt so ein Bild zu einem Spiel, welches “historische Authentizität” eigentlich immer in den Vordergrund stellt? All diese Fragen gilt es nun zu beantworten. Also macht es euch bequem und legt den roten Knopf bereit. Viel Spass beim Lesen!

Kleine Rechnung, große Wirkung

Der Grund für Gandhis Vorliebe für Atomwaffen liegt bereits weit zurück. Als 1991 der erste Teil der Civilization-Serie erschien, waren Videospiele (und gerade Rundenstrategiespiele!) noch weit von der Kompelxität heutiger Vertreter entfernt. Man hatte damals schlichtweg gar nicht so viele Möglichkeiten, Spielsysteme über grundlegende Eigenschaften hinaus zu programmieren. So gab es für den Spieler auch spielerisch keine Unterschiede bezüglich der einzelnen Nationen in Civilization I. Deutschland unter Bismarck spielte sich wie Russland unter Stalin. Oder eben Indien unter Gandhi. Bis auf ein paar optische Details spielte die Auswahl der eigenen Nation keine Rolle. Bei der KI sah es jedoch anders aus: Um diesen zumindest einen eigenen Spielstil zu geben, teilte man ihnen verschiedene Variablen zu, die sich an etablierten Geschichtsbildern orientieren sollten. Eine dieser Variablen war das Aggressivitätslevel, welches festlegte, wie aggressiv eine Nation spielt. Dschingis Khan bspw. besaß ein hohes Level von 6, Alexander der Große von 5. Somit sollte der Spieler sie auch im Spiel als die großen Feldherrn wahrnehmen, wie sie den Geschichtsbildern nach gezeichnet werden. Bei Gandhi war es aber genau andersherum: Er steht wie keine zweite Person für den Einsatz für Frieden und Gewaltlosigkeit. Dementsprechend gab man ihm ein Aggressivitätslevel von 1! Mit diesem Level würde er von selbst aus so gut wie nie jemandem den Krieg erklären. Das Bild des friedlichen Gandhi war also gesichert. Zumindest bis in die Moderne…

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Kleine Zahl, große Gefahr: Gandhis Friedlichkeit sollte sich in Civilization I als Bumerang erweisen.

Im Laufe der Spielzeit konnten die Spieler verschiedene Staatsformen freischalten und diese zogen unterschiedliche Boni mit sich. Dasselbe galt ebenso für die KI-Konkurrenz, welcher jeder eine individuelle “Lieblingsform” zugewiesen wurde. Sprich: Sobald der jeweilige (computergesteuerte!) Anführer diese Staatsform freigeschaltet hatte, wechselte er auch sofort zu dieser. Gandhis Favorit ist die Demokratie und diese hatte nun den netten Nebeneffekt, dass sie das Aggressivitätslevel der jeweiligen Nation um zwei Stufen gesenkt hat. Also sollte Gandhi nun nicht noch friedlicher sein? In der Theorie ja. In der Praxis aber kommt der Binärcode dazwischen: In diesem Zahlensystem konnte man Zahlen von 0-256 abdecken, aber eben keine Zahlen unter 0. Da die einfache Rechnung: “1-2=-1” in diesem System deshalb nicht funktionierte, wurde auf die -1 ein Wert von 256 addiert, um wieder innerhalb des Rahmens zu landen. Somit besaß Gandhi nun ein Aggressivitätslevel von 255. Von Maximal 10. Ein kleiner Unterschied. Einher mit der Erforschung der Demokratie geht die Tatsache, dass man sich in der Endphase einer Runde Civilization befindet. Ein nun vollkommen kriegslüsterner Gandhi wird deshalb auch die stärkste Waffe einsetzen, die ihm das Spiel bietet. Und das ist zu dieser Zeit die Atombombe.

It’s not a bug, it’s a feature!

Somit war also innerhalb der Serie die Legende vom Atombomben werfenden Gandhi geboren. Sicherlich wäre dieser Bug niemals so groß herausgekommen, wenn er nicht komplett konträr zu dem vorherrschenden Bild von Gandhi als Kämpfer für den Frieden gestanden hätte. Denn als einfacher Spieler erwartet man von Civilization eigentlich ein relativ gutes Gespür für “historische Authentizität” (oder was man sich eben unter “authentisch” vorstellt). Dieser (einzige!) Bruch innerhalb der ersten Teile ist natürlich sehr markant und das ist auch den Entwicklern selbst aufgefallen. In Civilization II gibt es eine direkte Textnachricht, welche sich auf den Bug des vorherigen Teils bezieht. Dort erwähnt Gandhi explizit, dass seine Forderungen gestützt sind… und zwar auf Atomwaffen! Hier wird Gandhi nun nicht mehr nur durch seine Spielweise, sondern auch durch weitere Bildschirme deutlich als Liebhaber der Atombombe präsentiert.

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Überzeugende Argumente: Gandhi betont in Civilization gerne, dass er seinen Forderungen durchaus Nachdruck verleihen kann.

Civilization II erschien 1996 und sollte damit bis zum Erscheinen des dritten Teils im Jahr 2001 prägend für Gandhis Darstellung innerhalb der Serie sein. Das Bild von “Nuking Gandhi” wurde dann aber scheinbar etwas zurückgesetzt: Weder Teil III, noch Teil IV behielten eine offensichtliche Anspielung auf den Bug der vorherigen Teile (oder bis heute hat sie noch keiner gefunden). Erst mit Teil V gab es wieder einen direkten Verweis: Wie in den ersten beiden Teilen wurden den jeweiligen Herrschern (sofern sie von der KI geführt wurden!) verschiedene Werte zugeordnet, die ihre Spielweise beeinflussen sollten. Nur waren diese hier weitaus komplexer und kleinteiliger. Jede einzelne Eigenschaft erhielt einen Wert zwischen 1 und 10, aus welcher sich die Häufigkeit der Aktivierung ergab. So beträgt der Wert “Expansion” bei Gandhi z.B. 3. Zu Beginn einer Partie wird dieser Wert nun zufällig um 1 oder 2 Punkte entweder reduziert oder erhöht (oder bleibt gleich). Somit verändert sich der Wert auf einer vorher festgelegten Skala. Zwei dieser KI-Eigenschaften tragen die wunderbaren Namen “Nuke Production” und “Use of Nukes”: Durch sie soll bestimmt werden, wie oft ein KI-Spieler Atomwaffen baut und auch benutzt. Gandhi besitzt hier nicht etwa den Wert 9 oder 10 (das wäre ja zu wenig), sondern den Wert 12. Dadurch ist vorgesorgt, dass er immer auf den Maximalwert von 10 kommt und somit in jeder Partie mit einem massiven Wettrüsten im Atomzeitalter anfangen wird.

Auch Civilization VI wollte das spieleigene Gandhi-Bild gerne beibehalten und hat deshalb die besondere Agenda “Nuke Happy” in das Spiel eingebaut. Zur Info: Jeder KI-Spieler hat dort zwei Agendas: Eine Anführerbezogene, die immer gleich ist (bei Gandhi ist dies die Agenda Peacekeeper, durch welche er so gut wie nie von selbst Krieg führen wird) und eine “hidden agenda”, welche ihm größtenteils zufällig zugeteilt wird. Dadurch soll sich in erster Linie auch der Spielstil der KI von Runde zu Runde unterschiedlich anfühlen. Für manche KI-Anführer gibt das Spiel aber höhere Wahrscheinlichkeiten an, eine bestimmte Agenda zu bekommen. Auch Gandhi besitzt eine solche, die ihm zu 70% immer als “hidden agenda” zugeteilt wird: Nuke Happy. Anführer mit dieser Agenda haben keine Skrupel, Atomwaffen einzusetzen und mögen Zivilisationen, die ebenso nuklear aktiv sind. Da Gandhi diese Eigenschaft nun überdurchschnittlich häufig bekommt, wird man also auch im neusten Teil nicht auf indische Atombomben verzichten müssen.

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Strahlend glücklich: Die „hidden agenda“ Nuke Happy taucht in Civilization VI besonders häufig bei Gandhi auf!

Fazit

Was als kleiner (aber schwerwiegender!) Programmierfehler angefangen hat, ist mittlerweile zu einem der bekanntesten Bugs der Spielegeschichte geworden. In zahlreichen Memes wird auf Gandhis Vorliebe zu Atomwaffen innerhalb des Civilization-Universums angespielt. Damit reiht sich Nuclear Gandhi in eine Reihe mit anderen berühmten “Fehlern” wie z.B. dem Glitch-Pokemon Missingno ein, welches den Spielern in der ersten Pokemon-Generation zahlreiche Items vervielfältigt hat. Das macht Gandhi zwar nicht, dafür gibt es aber einen großen Haufen an nuklearer Strahlung. Immerhin etwas.

Abgesehen davon entspricht der Gandhi in Civilization aber dann doch dem Bild, welches in der Geschichtskultur von ihm vorherrscht. So ragen immer friedliche und religiöse Boni heraus, durch welche wir einen Gandhi nach historischer Blaupause bekommen. Seine Vorliebe für Atomwaffen sticht dabei so dermaßen unpassend heraus, dass sie auch deutlich als “Gag” zu erkennen ist. Und genau das soll Nuclear Gandhi sowohl innerhalb, als auch außerhalb des Spiels sein: Ein Scherz, der zwar aus einem Zufall entstanden ist, aber auch heute noch funktioniert, da sich das Gandhi-Bild in den letzte 30 Jahren nicht groß geändert hat. Das Spiel hebt zugleich seine eigene „historische Authentizität“ hervor, da es sich der Absurdität dieser Darstellung bewusst ist. Sprich: Wer aus Gandhi einen so überzeichneten Liebhaber von Atomwaffen macht, weiß ganz genau, dass er genau dies nicht war (Anmerkung: Auch wenn es da Zitate gibt, über die man an anderer Stelle diskutieren kann). Weiterhin war Civilization auch gar nicht das erste Medium, welches durch ein komplett konträres Gandhi-Bild für ein paar Lacher gesorgt. Aus dem Film UHF (1989) entstammt ein Trailer, welcher ebenfalls einen… nicht ganz so friedlichen Gandhi zeigt. Auch wenn dort weniger mit Atombomben, sondern mehr mit Fäusten „gearbeitet“ wird.

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Poesie a la Gandhi: Viele Memes haben heute keinen direkten Bezug mehr zu Civilization, sondern setzen Nuclear Gandhi als bekannt voraus!

 

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