Den folgenden Artikel habe als Gastbeitrag für Ausgabe #10 des GAIN Magazins geschrieben, welches im Sommer dieses Jahres erschien. Wer sich die volle Ausgabe inklusive weiterer sehr lesenswerter Artikel besorgen möchte, kann dies hier tun. Und dabei gerne noch ein wenig herumstöbern. 🙂
Wenn man die Sache genau nimmt, war die »Anno«-Reihe schon immer eine Serie, in welcher man dem Kapitalisten in sich freien Lauf lassen konnte. Das Optimieren von Wirtschaftskreisläufen, das stetige Wachstum der Stadt (und der damit verbundenen Steuereinnahmen), das Weiterverarbeiten von Rohstoffen zu teuren Handelswaren – am Ende musste auch bei Anno der Grundsatz „Mehr rein als raus“ stimmen. Je besser man dieses Motto dann umsetzte, desto prächtiger konnte man sein Geld dann auch in Gebäude investieren, die für die eigentliche Entwicklung der Stadt keine Rolle spielten: Parks, Ziergebäude, Schlösser etc.: Die Möglichkeiten, seinen erworbenen Reichtum auszugeben, wurden ebenfalls von Spiel zu Spiel größer. Wo der Reichtum im Spiel „optisch“ immer weiter anstieg, blieb die andere Seite der Medaille aber auf der Strecke: Armut wurde kaum thematisiert. Zwar kamen nach und nach Mechaniken hinzu, wie etwa, dass nicht alle Bauern zur nächsten Bevölkerungsstufe aufsteigen konnten, wodurch der Spieler eben nicht nur eine hochpolierte „Traumstadt“ errichten konnte. Trotzdem kam er aber kaum mit sozialen Konflikten in Kontakt.
Als Ubisoft und Blue Byte 2017 »Anno 1800« als den neusten Teil der Serie ankündigten, weckte dies bei den Spielern zahlreiche Erwartungen: Die industrielle Revolution war schon lange ein von vielen Fans gewünschtes Szenario für die »Anno«-Serie, da sich diese Epoche, geprägt von Dampfschiffen, Fabriken und kolonialer Erweiterung, für ein Spiel wie »Anno« förmlich aufzudrängen schien. Worauf bei der Aussicht auf ein prächtiges Inselreich jedoch nicht geachtet wurde, war die Umsetzung einer bis heute sehr schwierigen Thematik: Wie wirkt sich der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft auf die „einfache“ Bevölkerung aus? Denn: In Folge der industriellen Revolution kam es zu weitreichenden Veränderungen in der Lebens- und Arbeitswelt der Menschen, die genauso prägend für diese Epoche waren – wie die sinnbildlichen rauchenden Schornsteine. Probleme und Folgen der industriellen Revolution werden unter dem Begriff der sozialen Frage zusammengefasst (Na, wer erinnert sich jetzt an seinen Leistungskurs Geschichte?). Und genauso wie andere Medien, die sich mit dieser Epoche beschäftigen, muss auch »Anno 1800« in gewisser Weise eine Antwort auf diese soziale Frage geben. Sprich: Wie geht ein Spiel, welches paradigmatisch für ein kapitalistisches Weltbild steht, mit dem schwierigen historischen Thema der sozialen Frage um?
Arbeit bis zum Umfallen: Die soziale Frage
Bevor man sich mit der sozialen Frage im Spiel beschäftigen kann, kommt man wohl nicht drum herum, sich einmal kurz mit dem Begriff näher auseinanderzusetzen. Ohne seinen Kontext würde man dessen Bedeutung und historische Reichweite sonst wohl kaum begreifen. Erstmals im 19. Jahrhundert formuliert, wollte (oder musste?) man Antworten auf verschiedene Entwicklungen finden, die in Folge der Industrialisierung begonnen hatten: Menschen zogen vom Land weg in die Stadt, um in einer der zahlreichen neuen Fabriken Arbeit zu finden. Wie ein Schwamm zog eine große Stadt zahlreiche neue Bewohner an, was zu massiven Problemen auf dem Wohnungsmarkt sorgte. Viele Arbeiter hatten gar keine Wohnungen, sodass sich Slums bildeten. Das „Mehr“ an Arbeitskraft sorgte dann für ein „Weniger“ auf dem Gehaltscheck: Es wurde derjenige eingestellt, der sich mit den oftmals mickrigen Löhnen zufrieden gab. Damit dann ganze Familien überleben konnten, arbeitete oftmals nicht nur der Hausherr, sondern auch die Frau – und oftmals sogar die Kinder – in unterschiedlichen Bereichen. Dass die Arbeitsbedingungen dabei nicht sonderlich gut waren, muss wohl kaum erwähnt werden. Wovon es nun in der Stadt zu viel gab, fehlte es dann auf dem Land: Dort mangelte es an Arbeitskraft und viele Höfe rutschten in die Armut ab.

Kurzum: Für die arbeitende Bevölkerung war die industrielle Revolution alles andere als eine schöne Zeit. Bei der in vielen populären Medien weit verbreiteten Romantisierung dieser Epoche werden diese Aspekte jedoch kaum erwähnt, weshalb es gerade interessant ist, wie eine Serie wie »Anno« damit umgeht. Schließlich war es immer irgendwie das persönliche Spielziel, den Spieler eine Stadt nach dem Vorbild seiner Träume errichten zu lassen. Slums, Arbeitslosigkeit oder Kinderarbeit passen da nicht gut ins Bild. Oder wer möchte neben seiner Weltausstellung hungernde Menschen sehen?
Eine romantisierte Arbeitswelt
Im Prinzip ist es nicht überraschend, dass »Anno 1800« das Narrativ vom Wandel der Agrar- zur Industriegesellschaft als übergeordnetes Spielprinzip direkt übernimmt. Wo wir in den ersten Entwicklungsstufen noch Farmen und Bauernhöfe bauen, kommen in den späteren Zivilisationsstufen fast nur noch Fabriken hinzu. Bereits die Vorgängerteile nutzten diese Spielmechanik und platzierten Bauern immer am Anfang ihrer „Entwicklungskette“, während am Ende Adelige oder Investoren standen. Je weiter der Spieler also sein Inselreich vergrößert, desto stärker nimmt er dessen industrielle Prägung wahr. Doch gilt dasselbe ebenso für die soziale Frage? Wird der Spieler auch mit den Problemen dieses Prozesses konfrontiert? Wenn wir uns nur die reinen Einwohnerzahlen anschauen, muss diese Frage wohl mit einem „Nein“ beantwortet werden. Denn wie in den Vorgängerteilen entspricht die Bevölkerungsentwicklung im Spiel dem einer umgekehrten Pyramide: Während in ein Bauernhaus maximal 10 Bauern hineinpassen, bewohnen ein Investorenhaus (die letzte Stufe) bestenfalls 50 Investoren. Flächenmäßig ersetzt ein Investorenhaus zwar gut fünf Bauernhäuser, aber durch die Menge der Einwohner entsteht ein komplett anderes Bild: Ein Bauer hat in einer Stadt in »Anno 1800« gut fünf Mal so viel Platz wie ein Investor. Im Spiel sind es also nicht die armen, sondern eher die reichen Bevölkerungsschichten, die sich auf engem Raum zurechtfinden müssen. Statt Slums bietet »Anno 1800« haufenweise Penthouse-Wohnungen.
Generell wird der Spieler mit fortlaufendem Spielverlauf kaum mit dem Problem der Wohnungsknappheit konfrontiert. Lediglich in Bezug auf Brand und Krankheiten gibt es für dicht gebaute Wohnviertel eine erhöhte Gefahr des Ausbrechens, sodass der Spieler in gewisser Weise immerhin auf das Fehlen ausreichender hygenischer Versorgung aufmerksam gemacht wird.
Eine wichtige Neuerung in »Anno 1800« ist das Aufteilen der Bevölkerungsgruppen in Arbeitskräfte: Jede Arbeit kann nur von genau einer Bevölkerungsgruppe verrichtet werden und deshalb muss immer dafür gesorgt werden, dass von dieser bestimmten Gruppe auch immer Arbeitskräfte vorhanden sind: Eine Fischerhütte kann etwa nur von Bauern betrieben werden, während eine Betonfabrik Ingenieure braucht. Die Chance, über dieses eigentlich kluge Spielprinzip auch ein wenig die soziale Frage zu thematisieren, wird vom Spiel jedoch kaum genutzt: Da im Spiel keine Gehälter gezahlt werden, macht es im Endeffekt auch keinen Unterschied, ob nun ein Arbeiter oder ein Ingenieur eine Tätigkeit ausübt: Beides wird vom Spiel gleichermaßen als zu erledigende Arbeit präsentiert. Auch Faktoren wie Arbeitsbedingungen oder Unfallsicherheit spielen gar keine Rolle. Zwar gibt es die Möglichkeit, die Produktivität verschiedener Betriebe aktiv zu beeinflussen (erhöhte Produktivität bedeutet unzufriedenere Arbeiter, gesenkte Produktivität bedeutet zufriedenere Arbeiter), doch hierdurch geht man nur marginal auf das Problem der Arbeitsbedingungen ein, da es eben auch möglich wird, durch Arbeit vermeintlich „Zufriedenheit“ zu erzeugen. Sprich: Arbeit sorgt genauso wie Bier für bessere Stimmung in der Bevölkerung, womit sich das Spiel sogar divergent zur Problematik der sozialen Frage entwickelt. Besser gelöst ist da schon die Tatsache, dass eine erhöhte Produktivität die Gefahr von Aufständen in der Stadt erhöht. Immerhin dadurch erkennt das Spiel, dass Arbeiter doch nicht alles mit sich machen lassen.
Was am Ende übrig bleibt
Nüchtern betrachtet thematisiert »Anno 1800« die soziale Frage also leider nur unzureichend. Der Übergang von der Agrar- zur Indsutriegesellschaft wird zwar sehr anschaulich an der für die Serie üblichen Bevölkerungsentwicklung dargestellt, aber damit hört es dann aber auch schon auf. Probleme wie der damit einhergehende Pauperismus, die Bildung von großflächigen Armenvierteln oder die Beeinträchtigung der Arbeitsbedingungen werden nur ganz marginal behandelt. Andere Themen wie z.B. Kinderarbeit oder die Folgen schlechter Arbeitsbedingungen (schwere Arbeitsunfälle und gesundheitliche Folgeschäden gekoppelt mit einem zum damaligen Zeitpunkt quasi nicht vorhandenen Krankenversicherungsschutz) tauchen erst gar nicht auf. Im Fokus steht weiterhin das Ziel, ein Reich zu erbauen, das die Zeiten überdauert, wie es die Verkaufsseite von »Anno 1800« auf Amazon selbst formuliert. Dieses Narrativ ist offensichtlich wichtiger als der Versuch, einer akkuraten Auseinandersetzung mit dem historischen Thema der sozialen Frage. Dirk Riegert, Creative Director von »Anno 1800«, äußerte sich in einem Interview mit dem Magazin Computerbildspiele bezüglich der Frage nach der Auswahl der Epoche folgendermaßen:
Auch wenn „Anno“ kein realistisches Spiel und unser 19. Jahrhundert keine Simulation der echten historischen Vorkommnisse ist, hatten wir das Gefühl, die Epoche gibt so schon genug her. 1
Gerade mit dem letzten Teil seiner Aussage hat Rieger prinzipiell recht, denn die industrielle Revolution ist sicherlich eine der prägendsten Epochen der neueren Zeit. Aber die Frage ist hier natürlich, welchen (Schatten)-Seiten dieser Epoche man einen Platz in seinem Spiel einräumt – und welchen nicht. Denn zur Industrialisierung gehören nicht nur rauchende Dampfschiffe, exotische Kolonialwaren und technischer Fortschritt, sondern eben auch massenhafte Armut, eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und das massive Auseinanderdriften von Reich- und Besitztümern. Genauso wie andere schwierige Themen, etwa Kolonialismus und Sklaverei, werden diese aber zu Gunsten des „heile Welt“-Bildes ausgelassen, um das eingangs erwähnte „Traumreich“ nicht in Gefahr zu bringen. Natürlich haben die Entwickler das Recht, sich für diese – verkürzte – Darstellung zu entscheiden. Aber genauso legitim ist es an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass dem Spiel neben einem Mehr an Reichtum und Luxus auch ein Mehr bei der Thematisierung der sozialen Frage nicht geschadet hätte.

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Das Zitat von Dirk Riegert stammt aus folgendem Interview: