Gleichzeitig ungleichzeitig? – Das Prinzip der Ungleichzeitigkeit als Gameplayelement [Age of Empires II]

Es läuft die 47. Spielminute: TheVipers Milizsoldaten haben das gegnerische Dorfzentrum umstellt und es steht kurz davor, zerstört zu werden. Ohne eine reele Chance, das Spiel noch drehen zu können, gibt sein Gegner kurz danach auf. Sieg für TheViper! Dass der momentan wahrscheinlich beste Age of Empires II-Spieler der Welt ein Spiel gewinnt, ist weniger überraschend. Viel mehr geht es darum, wie dieser Sieg zustande gekommen ist. Das Spiel war nämlich kein normales 1v1, wie es gerne gespielt wird, sondern fand im Rahmen der sogenannten „THEVIPER TROLLS“-Serie statt, in welcher er bestimmte Gameplay-Aspekte bewusst nicht nutzt, um der Frage nachzugehen, ob er mit seinem Skill trotz eines bestimmten Handicaps gewinnen kann. Der Titel dieser Ausgabe lautete „THE DARK SIDE“ und hier durfte er nicht aus der dunklen Zeit ins nächste Zeitalter voranschreiten. Somit blieb ihm am Ende nichts übrig, außer haufenweise Milizsoldaten zu bauen und mit schierer Masse den Gegner zu besiegen. Dieser nutzte zwar den Vorteil, bereits zum nächsten Zeitalter voran geschritten zu sein, woraus er aber kein Kapital schlagen konnte. Die fortschrittlichen Einheiten und Gebäude konnten wenig gegen die Masse an Milizsoldaten helfen.

Was zu aller erst nach einer witzigen Herausforderung klingt, offenbart sich auf dem nächsten Blick aber als perfektes Beispiel dafür, wie Age of Empires II die unterschiedlichen Spielepochen als bewusste Gameplay-Elemente nutzt. Obwohl beide Spieler am Ende die gleiche Zeit „gespielt“ haben, befand sich TheViper technologisch gesehen hinter seinem Kontrahenten. Gewonnen hat er trotz dieses zeitlichen Nachteils. Schauen wir jedoch einmal vom besten Spieler der Welt weg, so finden wir auch in den „normalen“ Spielen viele Partien, die der technologisch „unterlegene“ Spieler gewinnt. Den Spielern von Age of Empires II ist somit etwas bekannt, was der Philosoph Ernst Bloch im Jahr 1935 als „Ungleichzeitigkeit“ definierte: Im Nebeneinander würden immer verschiedene Formen „gesellschaftlichen Fortschritts“ existieren. Auf Age of Empires II bezogen bedeutet dies, dass trotz der gleichen Spielzeit sich ein Spieler entwicklungstechnisch noch im dunklen Zeitalter befinden kann, während der andere bereits in der Imperialzeit ist. Insofern wollen wir uns im heutigen Blogbeitrag dem Thema Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen am Beispiel von Age of Empires II widmen und schauen, wie genau das Spiel die Ungleichzeitigkeit als zentralen Gameplay-Aspekt eingebaut hat. Wie immer gilt dabei viel Spass beim Lesen!

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Klar getrennte Arbeitsbereiche: Die 4 Epochen in Age of Empires II sind bezüglich ihrer Technologien klar voneinander getrennt.

Geschichte wie geschnitten Brot

Die Frage, ob man nun ins nächste Zeitalter voranschreiten möchte, ist jedem Strategiespieler bestens bekannt. Auch außerhalb von Age of Empires II gehört das Epochenprinzip mittlerweile fast schon zum Standardrepertoire. Das Prinzip dabei ist immer dabei meistens, dass ein bestimmter Ertrag an Rohstoffen aufgebracht werden muss, um in das nächste Zeitalter voranzuschreiten. Es dauert dann ein wenig, bis man in der neuen Epoche angekommen ist, aber danach stehen einem spielerisch neue Einheiten, Gebäude etc. zur Verfügung. Einige Spiele drehen das Prinzip jedoch um, dort schaltet man das nächste Zeitalter nicht durch das Erforschen einer eigenen Technologie frei, sondern „nebenbei“, indem man eine zu diesem Zeitalter gehörende Technologie entwickelt. Die Civilization-Serie bspw. folgt diesem Prinzip. Diese Anlehnung an Epochen orientiert sich dabei sehr deutlich am „Mainstream der historischen Fachwissenschaft“, wie es der Historiker Jan Pasternak formuliert. Schließlich versuchen auch Historiker, alle möglichen zusammenhängenden Ereignisse in Epochen aufzuteilen. Sei es jetzt im großen (Antike – Mittelalter – Neuzeit; historische Epochen Europas) oder im kleinen (Königszeit – Zeit der Republik – Kaiserzeit – Spätantike; römische Geschichte). Jede Epoche besitzt dabei eigene Merkmale, weshalb es sich für ein Spiel anbietet, daraus ein wichtiges Gameplay-Element zu machen. Geht man dabei von einer stetigen „Weiterentwicklung“ aus, bieten sich Epochen dafür an, unterschiedliche Entwicklungsstufen zu repräsentieren. Auch wenn noch eingeworfen werden muss, dass eben diese Epocheneinteilung auch niemals so fest ist, wie es Spiele gerne darstellen. So gibt es alleine für das Ende des Mittelalters und den Beginn der frühen Neuzeit in der Forschung einen Spielraum von über 60 Jahren, da sowohl der Fall Konstantinopels (1453), als auch der Thesenanschlag Luthers (1517) hier herangezogen werden kann.

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Welches Ende darf’s denn sein? – Age of Empires II liefert in seiner eigenen Enzyklopädie auch keine Antwort auf das Ende des Mittelalters, sondern liefert einige der bekannten „Grenzdaten“.

Die meisten Spiele verzichten, wie auch Age of Empires II, verzichten dabei jedoch auf eine konkrete zeitliche Einordnung. Dort tragen die vier Epochen nur ihre Titel, ohne irgendeinen historischen Kontext hervorzuheben. Dunkle Zeit, Feudalzeit, Ritterzeit und Imperialzeit orientieren sich zwar (mehr oder weniger) an historischen Vorbildern, doch wann genau diese Zeiten nun waren, bleibt unklar. Zumal sie an sich auch teilweise falsche Assoziationen wecken: der Spieler verbindet die dunkle Zeit immer mit technologischem Rückstand, da sie als erste Epoche die spielerisch schwächste ist. Das „dunkel“ ist hier quasi als „rückständig“ zu verstehen, man will als Spieler aus dieser Zeit schnell heraus. Dabei bezieht sich das dunkel eigentlich darauf, dass wir heutzutage einfach zu wenig Quellen haben, um fundierte Rückschlüsse auf diese Zeit ziehen zu können. Im Endeffekt können die Menschen dort auch „gut“ gelebt haben, wir wissen es nicht genau. Auch die anderen Epochen vermitteln teilweise zu starre Bilder, da das Feudalwesen z.B. nicht mit dem „Aufkommen“ von Rittern endete und die auch schon relativ früh im Mittelalter aktiv waren. So z.B. in der Schlacht von Tours und Poitiers (732!), wo Karl Martell vor allem durch seine gepanzerten Reiter den Sieg erringen konnte. Ritter im Dunklen Zeitalter? Ein Traum (oder Alptraum, je nach Perspektive) für jeden Age of Empires II-Spieler.

Bereit für die nächste Zeit?

Aber genug von den historischen Anmerkungen, wir wollen nun mal auf das Gameplay schauen. Denn oftmals stehen und fallen Spiele mit der Entscheidung, wann und ob man ein Zeitalter voranschreitet. Die dunkle Zeit von Age of Empires II ist dabei meistens das Startzeitalter und bietet kaum spielerische Möglichkeiten. Es können lediglich Häuser, die Rohstoffsammelplätze, Felder Wälle, Beobachtungstürme, sowie Dock und Kaserne gebaut werden. Die einzigen, zu produzierenden Einheiten sind die Dorfbewohner im Dorfzentrum, Milizsoldaten in der Kaserne und Fischerboote im Dock. Spielerisch sind die Möglichkeiten also sehr begrenzt, weshalb die meisten Strategien daraufhin abzielen, hier die „Grundlage“ für ein gutes Spiel zu legen. Wer es nicht abwarten kann, baut schon ein paar Milizsoldaten und nervt damit den Gegner, ohne dabei jedoch großen Schaden anrichten zu können, da sie sich von der Stärke kaum von Dorfbewohnern unterscheiden. Sofern man also nicht TheViper ist, gibt es hier wenig zu tun. Daher soll es oftmals schnell ins nächste Zeitalter gehen, da sich die spielerischen Möglichkeiten dort massiv vergrößern: In der Feudalzeit kommen mit Reitern und Bogenschützen nicht nur neue Einheiten dazu, sondern Türme, Märkte und Schmieden laden zu verschiedenen Strategien ein. Somit ist es auch erst in dieser Epoche wirklich möglich, ein Spiel für sich zu entscheiden. „Normale“ Spiele werden frühestens in der Feudalzeit entschieden, was auch damit zusammenhängt, dass die Frage nach dem Fortschreiten in die nächste Epoche eine elementare Rolle spielt: Spare ich meine Rohstoffe (800 Nahrung und 200 Gold) und lasse den Gegner damit in Ruhe oder produziere ich viele Einheiten, um ihn schon früh aus dem Spiel zu werfen? Masse? Klasse?

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Der Alptraum jedes gegnerischen Spielers: Eine Horde Ritter ist einsatzbereit.

Der Zeitpunkt des Wechsels von Feudal- zu Ritterzeit ist spielerisch gesehen wohl die wichtigste Entscheidung in einer Partie. Nicht ohne Grund leiten sich die Namen vieler Strategien auch direkt von den Zeitaltern ab: Spielt man einen „Flush“ (Feudal Rush) oder doch ein „Fast Castle(age)“? Zwar kann es bei der Vielzahl an Strategien durchaus passieren, dass die Spieler sich relativ parallel entwickeln, aber spätestens in einer der nächsten Partien wird dem Spieler die Ungleichzeitigkeit im Spiel bewusst. Vor allem, wenn er es nicht schafft, das Spiel in einer früheren Zeit für sich zu gewinnen. Ohne die richtigen Kontereinheiten können ein paar Ritter oder eine Mange hier schon mal eine ganze Armee besiegen. Der zurückliegende Spieler erkennt, dass die Zeit nicht für ihn schlägt: der technologische Rückstand ist zu groß. Zumal ab dieser Zeit auch immer das „Boomen“ beginnt, wobei man durch die neuen Dorfzentren viel mehr Dorfbewohner als zuvor produzieren kann. Dasselbe gilt übrigens auch für den Wechsel in die Imperialzeit (1000 Nahrung, 800 Gold), wenngleich Spiele, sofern sie nicht weit über die 30 Minuten hinausgehen, hier schon entschieden sein dürften. Zumal in der Imperialzeit auch das Nebeneinander von vollkommen unterschiedlichen Einheitenklassen deutlich wird. Im Prinzip kann hier ein vollkommen ausgerüsteter Paladin auf einen einfachen Milizsoldaten treffen, sofern man diese Einheitenlinie nicht upgegradet hat.

Aber nicht nur im militärischen Bereich ist die Ungleichzeitigkeit deutlich: Auch bei den verschiedenen Technologien muss der Spieler sich fokussieren, sodass man bereits das Kettenhemd erforscht haben kann, ohne je die Schmiedekunst entwickelt zu haben. Oder man schaltet durch Chemie Belagerungskanonen frei, ohne jemals die Ballistik erforscht zu haben. Obwohl auf der Entwicklung dieser Technologie deutlich eine Kanone zu sehen ist! Auch hier sucht sich der Spieler meistens gezielte Technologien aus, sodass der Entwicklungsstand nicht wirklich einheitlich ist.

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Ein unfairer Kampf? – Ja… für die Milizsoldaten. Ein Elite-Deutschritter aus der Imperialzeit macht mit den Einheiten der dunklen Zeit kurzen Prozess.

Fazit

Age of Empires II ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Ungleichzeitigkeit auf verschiedenen Ebenen als Spielelement genutzt wird. Die Frage nach dem Voranschreiten in ein neues Zeitalter stellt sich jedem Spieler in einem normalen Spiel und muss an die Taktik angepasst werden: Versuche ich den Gegner durch einen frühen Angriff aus dem Spiel zu werfen oder nutze ich die Zeit lieber, um ihn durch technologischen Vorsprung zu besiegen? Da sich der Gegner die gleichen Fragen stellt, entsteht somit in fast jedem Spiel ein Nebeneinander an Ungleichzeitigkeit, wenn es Kämpfe in unterschiedlichen Epochen zwischen Einheiten verschiedener „Entwicklungsstufen“ gibt. Dabei ist die Ungleichzeitigkeit hier zwar als Index zu verstehen, wie weit „entwickelt“ ein Volk ist, doch muss das eben nicht bedeuten, dass man spielerisch zurückliegt. Im Gegenteil: Die Ungleichzeitigkeit kann aktiv genutzt werden, um den Gegner mit einer größeren Truppenanzahl früh zu besiegen. Auch in anderen Bereich wie den Technologien oder auch der Darstellung der Gebäude wird er Spieler ständig mit Zeitunterschieden konfrontiert, sodass ihm bewusst wird, dass sich Entwicklungen in Age of Empires II oftmals unterschiedlich schnell vollziehen, obwohl dieselbe Menge an Zeit vergangen ist.

Mit dem taktischen Einsatz des Voranschreitens und der gezielten Auswahl von Technologien steht und fällt also eine Runde Age of Empires II. Es wäre natürlich interessant zu sehen, wie sehr sich das Gameplay verändern würde, wenn man die Ungleichheit hier aufhebt. So wäre ein Spielmodus, in welchem man nach festen Zeitgrenzen (z.B. 10 Minuten, 20 Minuten, 30 Minuten) automatisch voranschreitet durchaus interessant. Oder man knüpft das Voranschreiten an bestimmte Technologien, die erforscht werden müssen, ähnlich wie bei Civilization. Ich meine, für die Szenarien gibt es auch Karten, die wie ein Hamburger aussehen, da dürfte man doch auch mal versuchen, ein wenig mit dem Gameplay zu experimentieren. Ansonsten bleibt halt das Verweisen auf solche „Troll-Challenges“ wie von TheViper, wo das Aushebeln bestimmter Gameplay-Elemente als Herausforderung gesehen wird. Und wo sich zeigt, dass modern nicht immer besser sein muss, sofern man seine Zeit richtig nutzt. Frei nach Leonardo da Vinci: „Die Zeit verweilt lange genug für denjenigen, der sie nutzen will.“

P.S.: Wer noch ein wenig mehr über dieses Thema lesen möchte, kann seinen Wissensdurst mit dem folgenden, sehr lesenswerten Artikel hoffentlich stillen:

Pasternak, Jan: 500.00 Jahre an einem Tag. Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung von Geschichte in epochenübergreifenden Echtzeitstrategiespielen. In: Schwarz, Angela (Hrsg.): Wollten Sie auch immer schon einmal pestverseuchte Kühe auf Ihre Gegner werfen?: Eine fachwissenschaftliche Annährung an Geschichte im Computerspiel. Münster 2010.

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